Immer zu spät

„You´re Stephanie and i´m Paulette
You know what all my faces mean
and it´s easy to smoke it up, forget
everything that happened in between”
Der Song “Best Friends, right?” von Amy Winehouse ertönt bereits seit einiger Zeit, als ich mit einem halben Auge auf mein Smartphone blicke. Mist! 09:03 Uhr, es ist schon wieder so spät! Ich stolpere aus dem Bett und bin schon mit dem Zähneputzen fertig, als mein System das Tagesbewusstsein hochfährt. Mein Verstand beginnt, Fährte aufzunehmen. Ich fange an, mich in Gedanken mit dem Kunden zu unterhalten, bei dem ich heute sein werde. In meinem Kopf findet kein netter Smalltalk statt, nein, da läuft bereits um 09:09 Uhr das erste Krisengespräch. Inhalt ist eine Krise, die es noch gar nicht gibt.

Meine Laune sinkt in den Keller, ohne dass ich es merke. Ich ziehe mir das am Vorabend ausgewählte Outfit über und stelle fest, dass ich mich heute unwohl darin fühle. Ich wühle mich hektisch durch meinen Kleiderschrank. Blick auf´s Smartphone. 09:28 Uhr, die Zeit rennt. Meine Tram fährt bereits in 20 Minuten. Ich ziehe ich mir etwas anderes an und lege Make-up auf. Zeit für einen Tee bleibt nicht. Schmallippig küsse ich meinen Freund und eile aus dem Haus. Auf hohen Absätzen stackse ich zur Tram, ab 3 km/h wird es unelegant. Zu spät, die Tram fährt mir vor der Nase weg.

Ich hechte zurück zum Taxistand und erwische jenen seltenen Taxifahrer, der sich an die Geschwindigkeitsvorschriften hält und bei gelben Ampeln bremst. Ich bin nervös und reagiere bei jeder Verzögerung genervt. In meinem Kopf führe ich Krieg mit dem Taxifahrer. Was für ein Idiot er ist! Als Taxifahrer ist es doch meine Aufgabe, den Kunden so schnell wie möglich von A nach B zu bringen! Wie kann so jemand nur Taxifahrer werden!

Ganze drei Minuten zu spät treffe ich bei meinem Kunden ein. „Sophia! Schön, dass du da bist! Es gibt Kaffee und Brezen! Komm durch!“ Jens strahlt mich an. Ich folge ihm in den Meetingraum und begrüße die anderen Teammitglieder der Lex De Lux Media Agentur. Ich fühlte mich von Anfang an sehr wohl in diesem Team. Gemeinsam gehen wir die zu besprechenden Topics ab. Eine Idee gefiel mir besonders gut: Das Einkaufen und Vermarkten von Drohnenflügen, vor allem an die Immobilienbranche. Der Markt erschien mir günstig und ich hatte bereits Kontakte im Kopf, die ich mit diesem Projekt verknüpfen könnte, auf Kunden sowie Lieferantenseite. Magnus schnitt meine Gedanken ab: „Drohnenflüge sind doch schon wieder durch, jeder Depp macht das. Dafür sind wir zu spät!“ Allgemeines Nicken. „Wer mit solchen Trends richtig Geld verdienen will, muss zu den Early Birds gehören. Die Drohnen werden immer günstiger, die Anzahl an Hobbyfliegern steigt und es drücken sich Anbieter in den Markt, die einen Drohnenvideo für´n Appel und n´ Ei produzieren. Da können wir niemals mithalten“, meint Anna. „Da hätten wir früher einsteigen müssen, dann hätten wir richtig Geld gemacht. Nun ist es zu spät.“

Gut gelaunt verlasse ich meinen Kunden. Ich wurde weder als „zu spät“ empfunden, noch gab es ein Krisengespräch. Auf dem Weg ins Büro rufe ich meine Oma an. Sie hatte mir schon vorgestern eine Whatsapp geschrieben und ich schuldete ihr mal wieder viel zu lange eine Antwort. In Anbetracht dessen, dass es mich zwei Minuten kostet, ihr zu schreiben… „Hallo mein Fienchen“, meldet sie sich. „Ich bin gerade unterwegs zum Kegeln und bin leider viel zu spät dran, lass uns morgen telefonieren ja?“ Sogar meine Oma hat Druck. „Rentnerstress“ nenne ich das gerne.

Im Büro angekommen werde ich von meiner Mutti aufgehalten, bevor ich mich meiner Jacke entledigen kann. Einer unserer Kunden wartet dringend auf das Einstellen seiner Youtube Videos, das hätte ich schon gestern machen sollen. Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn ich noch mit einem Fuß in der Tür stehe und schon zugeschwallt werde. Aber Mutti hat Recht, hier bin ich mal wieder zu spät dran. Ich streiche zwei Aufgaben aus meiner To-Do-Liste und schreibe sie in den morgigen Tag, um den Youtube Auftrag zu erfüllen. Den Rest der Liste arbeite ich ab, bis das flaue Gefühl in meinem Magen mich dazu zwingt, mich auf Nahrungssuche zu begeben. Da es bereits 15:30 Uhr ist und ich noch sieben geschäftliche Aufgaben auf meiner Liste stehen habe, entscheide ich mich für den Basic-Bagel und würge ihn runter, während ich mich an die nächste Aufgabe setze. Ich habe keine Ahnung, wie dieser Bagel geschmeckt hat. Wie im Rausch arbeite ich meine Aufgaben ab und reagiere genervt, wenn meine Arbeit unterbrochen wird. Letzte Aufgabe geschafft. Ich lasse den Stift fallen und renne blitzartig auf die Toilette. Ich muss schon seit fast einer Stunde pinkeln. Mein Pipi ist dunkelgelb und erinnert mich daran, dass ich mal wieder etwas trinken sollte.

Um 18:30 Uhr verlasse ich das Büro und spaziere nach Hause. Währenddessen rufe ich Tommy an, einen Drohnenflieger aus unserem Netzwerk. Er erzählt mir, dass er bereits für die nächsten zwei Monate ausgebucht ist und einen Tagessatz von 465 Euro verlangt. Vielleicht ist es doch nicht zu spät für das Drohnengeschäft. Ich denke den ganzen Weg lang darüber nach.

Zuhause angekommen setze ich mich an den Tisch in der Küche und schaue durch die offene Balkontür in den grünen Innenhof. Ich atme tief durch. Mein Nervensystem steht auf Anschlag. Meine Hände zittern. Mein Brustkorb ist eng und kribbelt. Es fühlt sich an, als könnte ich kaum atmen. Gleichzeitig atme ich schneller. Aus den ständigen Gedanken daran, dass ich zu spät bin, dass ich dieses oder jenes nicht erfülle, nicht schaffe, ja sogar kapituliere, entsteht eine rauschartige Gefühlskombination.

Das „Zu spät dran Gefühl“ macht mich hektisch und ungeduldig. Es macht mich wütend auf mich selbst. Weil ich dies wieder nicht schaffe und das wieder liegen lasse. Der Berg an Aufgaben, die ich noch zu bewältigen habe, wird immer größer statt kleiner und ein Gefühl der Unzulänglichkeit macht sich breit.

Ich reflektiere meinen Tag und meine Gefühle während dieses Tages, gehe ihn Schritt für Schritt durch. Ich stelle fest, dass mein Verstand mir mal wieder ein Schnippchen geschlagen hat. Ich hatte fast den ganzen Tag das Gefühl von „ich bin zu spät“, war aber eigentlich nie wirklich zu spät. Ich wurde gefühlt von tausend Dingen aufgehalten, bin aber dennoch meiner Arbeit nachgekommen, war zur richtigen Zeit beim Kunden, habe fast alle Aufgaben erledigt und war auch recht früh Zuhause. Wenn ich so Resümee ziehe, war alles wunderbar. Ich hätte diesen kostbaren Tag noch viel mehr genießen können.

Ich hätte genießen können, so lange zu schlafen. Hätte mich nochmal strecken und an meinen Freund kuscheln können, bevor ich aufstehe. Ich hätte mein zurechtgelegtes Outfit toll gefunden, wenn ich nicht in Krisenstimmung gewesen wäre. Ich hätte meinen Freund zum Abschied richtig geküsst, mindestens 3 Sekunden lang, innig und mit Dankbarkeit für diesen wunderbaren Menschen. Ich hätte die Taxifahrt genießen können und mich meinem Interesse am Menschen widmen können. Ich hätte dem Taxifahrer Fragen gestellt, um spannende neue Sichtweisen kennenzulernen. Ich hätte meinem Kunden vorschlagen können, die Idee mit der Vermarktung eines Drohnenpilots auf schlanke Weise zu testen – vielleicht durch einen Newsletter an alle Kunden. Ich hätte meiner Mutti bei der Ankunft im Büro sagen können, dass ich erst mal ankommen und mir einen Tee machen möchte und dann sofort in ihr Büro komme. Eine entspannte Sophia hätte das nämlich getan, statt sich innerlich aufzuregen und dies durch Augenrollen kundzutun. Ich hätte mir die Zeit nehmen können,  einen Salat und eine Avocado im Biomarkt zu holen und mit meiner Mutti zu essen, während wir Kunden besprechen. Ich hätte meine Aufgaben auch so bis spätestens 19:00 Uhr erledigt. Ich hätte auf dem Weg nach Hause den Kirschbäumen meine Aufmerksamkeit schenken können. Hätte, hätte Fahrradkette.

So sitze ich nun in meiner Küche und merke nicht nur, dass ich einen wunderbaren Tag hatte, sondern dass er hätte sogar noch viel wunderbarer sein können, wenn mein Verstand mich nicht in einen einzigen Rausch aus „Zu spät Gefühl“ versetzt hätte.

Zum ersten Mal an diesem Tag spüre ich meinen Körper und nehme gleichzeitig meine Gedanken und meine Umgebung wahr. Ein wunderbarer Zustand. Ich empfinde diesen Zustand als absolute Wahrheit und Wahrhaftigkeit.

Körper
Mein Körper ist ausgelaugt. Ich habe zu wenig getrunken, meinen Körper mit Weizen und Zucker gefüttert und stundenlangem Stress ausgesetzt. Mir ist kalt, mein Magen fühlt sich flau an und meine Hände zittern.

Gedanken
Meine Gedanken drehen sich um die Dinge, die ich heute hätte besser machen können. Mein Verstand saugt sich geradezu an allem fest, was mich in negative Stimmung versetzt.

Umgebung
Die Vögel zwitschern und der Wind rauscht durch die Bäume im Innenhof. Ich höre klapperndes Besteck und Stimmen, die im gesamten ein harmonisches Summen ergeben. Während ich meinen Gedanken zuhöre, verfolge ich mit den Augen meinen Kater, der genüsslich an den Sommerkräutern knabbert.

Dieser Moment, jetzt und hier. Er ist einfach wunderschön. Das einzige, das tobt, ist mein Verstand. Er will mir unaufhörlich sagen, was ich falsch mache. Was ich zu tun und zu verbessern habe. Ich lasse ihn blubbern und bleibe in meinem Moment.

Das Jetzt ist für mich nicht nur mein Ort der Wahrhaftigkeit, es ist für mich auch ein Fluchtort. Wenn die Gedankenmatrix mich runterzieht und meine Gefühle durchbrennen lässt, ist das Eintauchen in den jetzigen Moment wie ein nach Hause kommen. Wie der Eintritt in die Realität. Das ist das echte Leben!

Mein Verstand wird sich weiterhin auf das Negative konzentrieren, denn er hat die wichtige Aufgabe mich zu schützen. Und auch wenn er das teilweise auf zerstörerische Art und Weise tut, ohne die Negativität des Verstandes wäre ich aufgeschmissen. Ich würde Gefahrensituationen nicht mehr ausreichend beurteilen können. Ich kann anerkennen, dass mein Verstand seine Funktion erfüllt und kann seinem Gequatsche folgen. Das heißt aber nicht, dass ich ihn ernst nehmen muss! Er ist nur eine Funktion in meinem System, der Chef bin aber immer noch ich. Ich möchte das Ich an dieser Stelle nicht definieren (das wird ein sehr langer Essay…), aber eins ist klar: Ich bin nicht mein Verstand.

Der Verstand ist sowas wie mein Angestellter. Er ist loyal, er greift durch, er hält mein System am Laufen. Er ist ein aufmüpfiger Angestellter, der die Klappe auch noch aufreißt, wenn ich ihm verboten habe zu sprechen. Nichts desto trotz bin ich der Chef meines Systems. Und solange ich dem Verstand nur zuhöre, seine Vorschläge abwäge und dabei die letzte Instanz bleibe, kann er mich nicht in einen solchen Rausch versetzen.

Der Versuch besteht also darin, mehrmals am Tag die eigenen Gedanken zu checken. Die Gedanken laufen zu lassen, zuzuhören und sich dann ein Bild von der eigenen Gemütslage zu machen. Ich kann erkennen, dass ich mich gestresst fühle, dass ich Krisengespräche in meinem Kopf führe und mir ständig Unzulänglichkeit vorwerfe. Nun habe ich die Macht. Was kann ich tun, damit mein Stresslevel runterfährt? Wie kann ich Krisengespräche in meinem Kopf stoppen und zum jetzigen Moment finden? Was brauche ich, um mich als wertvoll zu empfinden? Welche Gedanken helfen mir, wenn ich tatsächlich spät dran bin und nicht ganz pünktlich zu einem Termin erscheine?

Die Realität ist doch, dass wir mit den wesentlichen Dingen nie zu spät sind. Im Nachhinein betrachtet fällt mir oft auf, dass die Dinge in meinem Leben genau zur richtigen Zeit passiert sind, dass es genau diese Schritte gebraucht hat, die ich oft unter divenhaftem Gejammer gegangen bin. Ich habe es zum Beispiel immer als eigene Unzulänglichkeit empfunden, dass ich die ersten drei Jahre in meiner Selbstständigkeit kaum zu Potte kam. Nun bin ich sogar froh, dass ich so langsam wachsen konnte, denn ich bin dadurch bodenständiger geworden. “Mit der Hand am Arm”, würde Jochen Schweizer sagen. Ich schätze langsames Wachstum und die Zeit, die man damit für die eigene Entwicklung bekommt. Ich habe gelernt, dass ein Unternehmen einfach seine Zeit braucht und ich jetzt lernen darf, geduldig zu sein.

Der Weg ist das Ziel. In den wesentlichen Dingen bin ich nie zu spät.

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