Der persische Dichter

Dicke Regentropfen prasselten auf mich nieder, als ich über die Goethestraße rannte, um Schutz unter einer Baustellenunterführung zu finden. Gerade hatten wir noch den schönsten Sonnenschein, nun lief das Wasser wie ein Bach durch meine offenen Schuhe. Ein kleiner Mann in den Vierzigern quetschte sich neben mich unter das Dach und sah mich mit wachen und freundlichen Augen an. Er trug einen großen Sack mit sich, den er auf seinen Schuhen abstellte. Darauf befanden sich Schriftzeichen, die ich nicht zuordnen konnte. „Normalerweise kaufe ich meinen Reis im Fünfkilosack, heute habe ich mich entschieden, zehn Kilo zu kaufen. Und dann solch ein Regen“, sagte er und strahlte dabei über das ganze Gesicht. „Und ich dachte, das ist Blumenerde“, erwiderte ich. Sein Lachen schallte durch die Baustellenunterführung. „Nein, das ist der beste Reis, den es gibt. Wenn du ihn richtig kochst, wirst du nie wieder einen anderen Reis essen wollen.“

Daraufhin erklärte er mir zehn Minuten lang, wie man seinen besonderen Reis kocht. Die Anleitung war kompliziert und ich konnte sie mir nicht merken. Nachdem er sein Rezept mit mir geteilt hatte, fragte er mich, was ich beruflich mache. „Marketing“, antwortete ich. „Ah.“ Die Reaktion kenne ich und ergänzte: „Ich bringe Unternehmen auf Facebook.“  Wie erwartet erhellte sich sein Gesicht und er erzählte mir, dass auch er fünf Fanseiten besitzt. „Ich bin Dichter, weißt du.“  Nun erhellte sich auch mein Gesicht. „Ja?“ antwortete ich, „möchtest du mir deine Fanseiten schicken, damit ich mal etwas von dir lesen kann?“ „Natürlich!“, rief er begeistert. „Und wenn du mir sagst, was ich auf Facebook besser machen kann, lade ich dich zu einem Reisgericht bei mir ein!“ Sein Blick verdunkelte sich innerhalb weniger Sekunden. „Leider wirst du das meiste meiner Kunst nicht verstehen, weil ich persische Gedichte schreibe. Es gibt ein paar deutsche Texte, aber das sind nicht viele. Meine deutschen Freunde sagen mir ständig, ich soll doch mal auf Deutsch schreiben. Aber das geht nicht so einfach. Die persische Sprache ist eine dichterische Sprache. Ich nutze sie nicht, weil sie meine Muttersprache ist. Ich nutze sie, weil sie so wunderschön zum Dichten ist.“

Es hatte mittlerweile aufgehört zu Regnen und wir liefen gemeinsam Richtung Hauptbahnhof, obwohl ich mir sicher war, dass er anfangs in die Gegenrichtung wollte. Ein erneuter Regenschauer erwischte uns und wir kamen völlig durchnässt am Hauptbahnhof an. Er gab mir seine Telefonnummer, wischte seine nassen Hände erfolglos an seinem nassen Shirt ab und reichte mir die Hand. Bevor er in der Menge verschwand verabschiedete er sich mit den Worten „Wasser ist wie Kleber, wenn es regnet, bringt das Leute zusammen.“

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