Abgrenzung mit Schönsprechen

In letzter Zeit passiert es mir häufig, dass ich mit den Anforderungen, die mein Alltag und die Menschen darin an mich stellen, nicht mehr klarkomme. Ich reagiere genervt und überfordert. Wenn mich das Gefühl der Ohnmacht im Sinne von Handlungsunfähigkeit und Machtlosigkeit erreicht, ist es ganz klar an der Zeit, Grenzen zu ziehen. Es ist an der Zeit, Nein zu sagen. Mich aus der Verantwortung zu ziehen.

Wenn alle Termine, privaten Treffen und die Arbeit sich nach „viel zu viel“ anfühlen, ist es meine Aufgabe, zu entzerren und auszusortieren. Ich bin nicht das Opfer der steigenden Anforderungen in der Arbeit und der zahllosen Termine. Es liegt an mir, zu reagieren. Aufträge abzulehnen, Termine abzusagen, Unterstützung zu suchen, Abläufe zu optimieren.

Aus der Überforderung aussteigen

Ich frage mich zuerst, was oder wer dieses Gefühl der Überforderung in mir auslöst. Welche Kunden sind es? Welche Aktivitäten sind es? Vielleicht hilft Pareto oder eine Putzfrau?

Was in jedem Fall hilft und die Grundvoraussetzung für ein entspanntes und selbstbestimmtes Leben ist, ist die Fähigkeit zur Abgrenzung. Nein sagen zu können verlangt Klarheit, Mut und eine wertschätzende Kommunikation, um anderen nicht wie eine Dampflok über das Gesicht zu fahren. Ich muss Menschen, die mir wichtig sind, sagen können, dass ich dieses oder jenes nicht (mehr) für sie tun kann. Dass ich jetzt leider gerade nicht da sein kann. Ich denke, die meisten Menschen haben das gleiche Thema mit der Abgrenzung wie ich: sie tun es zu spät. Nämlich dann, wenn die eigene Energie niedrig und das Nervenkostüm bereits dünn ist. Total menschlich, denn erst dann fällt einem deutlich auf, dass alles zu viel wird. Das Nervenzentrum reagiert mit einer dauerhaften Überaktivität und jede noch so kleine Anforderung kann Wut oder Ohnmacht auslösen.

„Jeder will etwas von mir, können die mich nicht alle einfach in Ruhe lassen?“

Dies ist einer meiner häufigen Gedanken in diesen Situationen.

 

„Ich habe sechs unbeantwortete Anrufe, 170 Emails, einen Arsch voll Arbeit und eine Scheißlaune!“

Erreicht mich dann eine Anforderung, scheinen genau diese Gedanken durch. In meinem Gesicht, in meiner Stimme, in geschriebenen Worten. Selbst wenn ich lächle und mich bemühe, freundlich zu wirken, das „lass mich in Ruhe“ schwingt mit. Wir sind nun mal alle miteinander verbunden und ob bewusst oder unbewusst, wir spüren, was in unserem Gegenüber vor sich geht.

Wie also erfülle ich die Verantwortung mir selbst gegenüber (Abgrenzung) und gleichzeitig meine Werte anderen gegenüber (Aufrichtigkeit und Freundlichkeit)?

Meine Lösung nenne ich Abgrenzung mit Schönsprechen. Schönsprechen – das sind jene aufrichtigen und freundlichen Worte, die meinem Gegenüber das Gefühl geben, dass ich ihn respektiere, ehrlich und offen zu ihm bin und er sich auf mein Wort verlassen kann. Schönsprechen baut Brücken, statt Grenzen zu setzen. Und diese Brücke macht es mir möglich, mich dem anderen gegenüber abzugrenzen, ohne ihn damit vor den Kopf zu stoßen. Wer schönspricht, dem wird zugehört. Der erfährt Verständnis und Unterstützung.

Wer schönspricht, hat meist nachgedacht, bevor er spricht.

Mein Trick fürs Schönsprechen ist folgender: Ich reagiere nicht sofort auf Anforderungen. Ich suche eine Möglichkeit, mir mindestens zehn Minuten Zeit zu verschaffen, bevor ich die Anforderung beantworte.

Dann frage ich mich, ob ich diese Anforderung nun erfüllen möchte oder nicht. Finde ich eine Bereicherung darin? Oder würde ich aus Pflichtbewusstsein zusagen? Habe ich realistisch gesehen genug Ressourcen? Energie? Zeit? Verärgert mich die Anforderung vielleicht sogar? Warum tut sie das?

Ich lasse die Anforderung durch mein gesamtes System laufen. Mein Verstand darf mich vollsabbeln und die Wut darf sich im Bauch bemerkbar machen. Ich frage mein Herz, ob es etwas Lebendiges in der Anforderung findet, das es reizt. Und praktischerweise weis ich dann auch sofort, was das Erfüllen dieser Anforderung mit mir zu tun hat.

Was begeistert mich daran und welchen Wert sehe ich darin? Finde ich darauf eine Antwort, erfülle ich die Anforderung mit weitaus mehr Freude als wenn ich sie nur aus Pflichtbewusstsein erfülle.

Ein bestehender Kunde möchte einen weiteren Auftrag bei mir platzieren. Erfülle ich den Auftrag aus Pflichtbewusstsein meinem Kunden gegenüber oder weil ich ein Interesse an dem Projekt oder den Werten dahinter habe? Das ist ein riesiger Unterschied! Und auch wenn ich mich gegen die Anforderung entscheide, bleiben wir bei dem Auftrag des Kunden, weiß ich nach meinem Systemcheck, warum ich den Auftrag nicht durchführen möchte. Vielleicht weil ich etliche Überstunden schieben müsste und mein Energielevel gerade nicht hoch genug ist. Vielleicht, weil das Projekt nicht mit meinen Werten übereinstimmt.

Ich komme meist innerhalb kürzester Zeit zu einer Entscheidung. Die „Lass-mich-in-Ruhe-Trotzreaktion“ ist danach nicht mehr spürbar, weil ich ihr a) Raum gegeben habe und b) innerlich ganz klar Stellung dazu beziehe und somit die Macht über das, was passiert, wieder in meiner Hand liegt. Ich kann reagieren, ohne dass meine Überforderung mitschwingt. Ich habe einen klaren Geist und spreche mit offenen und ehrlichen Worten. Ich kann meinem Kunden aufrichtig danken, dass er mir diesen Auftrag anvertrauen möchte und ihm meine Lage erklären, ohne dabei die Wertschätzung ihm gegenüber zu verlieren. In fast allen Fällen zollt mir mein Kunde dafür seinen Respekt, egal wie meine Entscheidung ausfällt. Es ist sogar schon vorgekommen, dass meine Kunden gewartet haben, bis ich Zeit für den Auftrag hatte, statt ihn an jemand anderen zu vergeben. Dass aus solchen Situationen noch mehr Wertschätzung entsteht, brauch ich nicht auszuführen. Ich bemühe mich bis heute sehr um diese Kunden.

Diese „Lass-mich-in-Ruhe-Trotzreaktion“, die solch guten Momenten im Weg steht, entsteht ganz oft aus dem Gefühl, ein Opfer der Umstände zu sein. Auf einmal sind alle böse, weil alle was wollen und ich ständig irgendwelche Bedürfnisse erfüllen soll. Als hätten alle Menschen eine Schubkarre für ihre Gewichte des Lebens und alle packen ihre scheiß Gewichte in meine Schubkarre. Ich sehe in diesen Momenten gar nicht mehr, dass diese Menschen ihre Gewichte in meine Schubkarre packen, weil sie mich gut finden und mich für den richtigen Weggefährten halten. Und dass sie zudem keine Ahnung haben, wie viele Gewichte ich stemmen kann, bis ich müde werde.

Das ist mein eigener Mindfuck, nicht mehr.

Diesen Mindfuck kann ich schnell lösen, indem ich mir die Zeit nehme, eine kurze Konferenz mit mir selbst einzuberufen und hinter den Mindfuck zu blicken. Dort liegt nämlich unsere eigene Wahrheit. Und die kennen wir. Wir nehmen uns nur nicht oft genug die Zeit, sie anzusehen. Wer seine Wahrheit entdeckt, kann aus dem Herzen sprechen. Schönsprechen 🙂

 

Wer nicht wirklich nein sagen kann, kann auch nicht wirklich ja sagen.

 

(Essay | Sophia Kat Zee Mueller | November 2017 | München)

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