Die Grippe kommt im Flugmodus

Prinzessin Schachmatt und ihre Urlaubskrankheit

„Nur noch ein paar Tage, dann ist Weihnachten“, dachte ich. „Nur noch ein paar Tage durchhalten.“ An dem Wort „durchhalten“ hätte ich bereits erkennen können, dass ich mich am Rande des Wahnsinns befand. Abarbeiten, erledigen, von der To-do-Liste streichen. Liebevoll an andere denken, vorsorgen, einkaufen, fertigmachen. Körperlich kam ich auf dem Zahnfleisch daher und mein Geist war das reinste Nervenbündel. Ich war physisch unterfordert und psychisch überfordert. In jedem bewussten Moment kam ich zu der Erkenntnis, dass ich dringend eine Bremse ziehen muss. „Nur noch ein paar Tage.“

Der Tag vor Weihnachten war endlich gekommen. Ich konnte den Laptop runterfahren und das Handy in den Flugmodus schalten. Es fühlte sich unendlich gut an, alles erledigt zu haben und zwei freien Wochen entgegenzublicken.

Am nächsten Tag bekam ich eine fiese Erkältung. Weihnachten fiel flach. Die Weihnachtsfeiertage auch. Ich lag auf der Couch und trank literweise Ingwerwasser.

Die erste Woche meines Urlaubs verbrachte ich mit meinen körperlichen Gebrechen und die zweite Woche mit meinen seelischen. Kaum ging es mir auf körperlicher Ebene wieder gut, suchte mein Verstand sich etwas Neues, worüber er sich aufregen konnte: mich. Wut, Scham und Selbstzweifel stiegen an. Ein ständiges Unwohlsein machte sich breit. Ich war genervt von mir selbst und konnte meine freie Zeit nicht genießen. Wie eine große, graue Wolke hing die Unzufriedenheit über mir. Ich tat, was ich als beste Lösung empfand: Zurückziehen, den Mund halten und „Lebenspflege“ betreiben (der Begriff „Lebenspflege“ beschreibt in der Traditionellen Chinesischen Medizin die Pflege von Körper, Geist und Seele).

An einem Tag während meines Urlaubs hatte ich geplant, drei Stunden zu arbeiten, und so tat ich dies. Ich fuhr meinen Laptop hoch und startete damit die Kommandozentrale für meine kleine Agentur mit ihren 25 Kunden. Schon in der ersten Stunde merkte ich, dass ich mich wohler fühlte. Ich fühlte mich sicher. Selbstsicher. Irgendwie angekommen. Es ist mein Revier, hier bin ich der Kapitän. Ich dachte an Westernhagens „Wieder hier“ und summte fröhlich vor mich hin. Ich ging meinen gewohnten Gang, kontrollierte hier und da und klappte anschließend selbstzufrieden grinsend meinen Laptop zu. Das Grinsen verging mir schnell. Mir wurde klar, dass ich gerade bewusst wahrgenommen hatte, dass meine Arbeit mich aus meinem tiefen Loch herausholte. Ich frage mich, ob das tiefe Loch entstanden ist, weil ich nicht in meinem Cockpit saß. Weil ich mir selbst ins Gesicht sehe, wenn ich gerade keine Funktion habe. Wer bin ich, wenn ich nicht in meiner Funktion stecke? Warum trete ich in eine Auseinandersetzung mit mir, sobald ich frei von Arbeit und Verpflichtung bin? Ich sehe nach innen und finde Chaos und Verwüstung.

Ich allein, nackt und ohne Identifikation, bin zerbrechlich und sensibel, statt selbstsicher und gelassen.

Die Pause lässt mich demütig feststellen, dass ich einen Großteil meiner Stärke aus der Kraft ziehe, mit der ich Ziele verfolge. Sobald ich loslasse und mein Ziel aus dem Fokus nehme, breche ich zusammen wie ein Kartenhaus. Wer bin ich, wenn ich mich meinem Willen, meiner Geschwindigkeit und meiner unermüdlichen Schaffensfreude entziehe? Verstecke ich mich vielleicht sogar nur hinter diesen Eigenschaften? Verfolge ich angestrengt Ziele, um den Schmerz nicht zu spüren?

Was tut das prämierte Rennpferd, wenn es nach dem Rennen in seiner Box steht? Wenn die Stille kommt?

Ich glaube, die Stille ist das unverzichtbare Gegengewicht zum Tun. Nichtstun reicht nicht. Unter  Nichtstun verstehe ich fälschlicherweise auch Fernsehen, Hörbücher oder Musik hören, gedankenlos auf Facebook surfen. Stille hingegen ist bewusst. Ich nehme Stille wahr. Im Außen. Im Innen. Die Stille im Innen, im Verstand, ist die schönste und wirkungsvollste Stille von allen. Jedoch ist sie schwer erreichbar und kommt keinesfalls von selbst.

Durch das Entstehen der Stille im Außen (= die Weihnachtsfeiertage oder auch die Box des Rennpferds), hörte ich den Lärm in meinem Verstand. Lärm in Form von Selbstzweifeln, Urteilen und Sorgen. Ich hatte mich in den letzten Monaten durch mein Tun von dem immer lauter werdenden Lärm abgelenkt, statt ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken. Echte Stille hatte ich zuletzt im Sommer täglich kultiviert. Ich hatte darauf geachtet, Momente der Stille und des Bewusstseins in meinen Tag einzubauen und dem Lärm in meinem Inneren zuzuhören. Der Lärm in meinen Verstand wurde gehört und geachtet. Er musste sich nicht aufstauen und wie ein Wasserfall aus mir herausbrechen.

So langsam wundere ich mich nicht mehr über meinen Knockout über Weihnachten und Neujahr. Ich habe die Waage aus Tun und Stille aus dem Gleichgewicht gebracht und war unachtsam. Ich hatte meiner Schaffensfreude freien Lauf gelassen, denn der Winter ist meine Zeit des Schaffens. Es fühlte sich verdammt gut an. Wenn ich aber im Gleichgewicht bleiben möchte, muss ich mich selbst kontrollieren. Das ist die traurige Wahrheit, die ich immer wieder feststelle.

Ich muss mich selbst freilassen und wieder einfangen. Ich muss mich in den Himmel heben und mit der Erde verwurzeln.

Und das passiert in unserer Welt eben nicht von allein. Vielleicht, wenn man mit der Natur lebt. Jedoch nicht, wenn man in einer Großstadt wohnt, im Marketing arbeitet und sich Ziele innerhalb einer Leistungsgesellschaft gesetzt hat. Dieses Leben hat nichts mit dem natürlichen Zustand meines Geistes oder Körpers zu tun. Das war meine Wahl und damit habe ich mich ebenso verpflichtet, meinen Geist zu kontrollieren und meinen Körper zu pflegen, um sie hin und wieder in ihren natürlichen Zustand zu bringen, der in dieser Welt leider verloren geht. Es bedeutet Anstrengung, einen Schritt zurückzugehen, stehenzubleiben und innezuhalten.

Es kostet mich Kraft und Zeit, in den eigenen natürlichen Zustand zu kommen und Stille herbeizuführen.

Ich habe mir dieses Leben hier ausgesucht. Ich bin dafür verantwortlich. Ich bin auch für die Stille verantwortlich, die mein Geist und mein Körper benötigen, um stark und kraftvoll zu bleiben. Ich bin voller Demut und fasse einen späten Neujahresvorsatz.

 

 

Bild: Kl Petro

 

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