“Achtsamkeit macht leistungsfähig.” “Achtsamkeit macht glücklich.” “Achtsamkeit macht schlank.”
Achtsamkeit wurde zum Trend erklärt und Headlines wie diese häufen sich in letzter Zeit. Allerdings versteht man durch das Lesen der zugehörigen Artikel nicht wirklich, was Achtsamkeit ist. Bevor jetzt wieder jemand Achtsamkeit als zusätzliche “Leistung” nach der Yogastunde einplant, hier mein Essay dazu.
Was ist Achtsamkeit?
Mir gefällt nicht, dass Achtsamkeit häufig mit Meditation gleichgesetzt wird. Meditation ist eines der erfolgreichsten Werkzeuge der Achtsamkeit, ist aber nicht die Achtsamkeit. Achtsamkeit ist ein Zustand. Und diesen Zustand erreicht man nicht nur durch Meditation. Ganz zur Freude meinerseits, denn ich finde Meditation ist eines der schwierigsten Werkzeuge der Achtsamkeit. Ich bediene mich viel lieber an einfacheren Werkzeugen. Meinem Körper, der Natur, dem Menschen und dem Genuss zum Beispiel. Ein Aufatmen in der spiritualitätsscheuen Reihe. Ich muss nicht meditieren, Yoga praktizieren und mit jedem über meine Gefühle sprechen, um achtsam zu sein. Achtsamkeit ist ein Zustand. Der Zustand Jetzt. DABLEIBEN ist das Stichwort. Nicht ständig in die Zukunft oder Vergangenheit abhauen. Im Moment sein.
Das Dableiben hat die Folge, dass man sich selbst mitbekommt. Die eigenen Gedanken, den eigenen Körper, die gesamte Umgebung.
Achtsamkeit und Meditation
Bei der Meditation übe ich diesen Zustand des Dableibens. Ich verfolge meinen Atem. So richte ich meine Aufmerksamkeit auf meinen Körper und bin damit automatisch im Jetzt. Ich verfolge meinen Atem so lange, bis Gedanken oder Empfindungen dazwischen kommen. Ich registriere die Gedanken und Empfindungen, benenne sie vielleicht noch kurz („Arbeit“, „Schmerzen“, „Träume“) und gehe mit meiner Aufmerksamkeit wieder zurück zu meinem Atem.
Angenommen ich meditiere eine Stunde am Tag. Dann ist meine Achtsamkeit auf diese Stunde begrenzt. Genau das bringe ich meinem System bei. „Das ist deine Stunde, jetzt kannst du achtsam sein, dich dem Jetzt hingeben.“ Und genau davon halte ich nicht viel.
Ich fabriziere eine wahre Gedankenflut während der Meditation, weil mein System erkennt, dass ich jetzt alles rauslassen kann und der ganze Mist meine volle Aufmerksamkeit bekommt. Das heilt meinen kranken Verstand und bringt mir Gelassenheit. Ich lerne dabei aber nicht, in jeder Situation achtsam zu sein. Manche Menschen mögen durch Meditation vielleicht ihr ganzes Leben achtsamer gestalten, doch für mich gilt das nicht. Ich muss an der Front üben. Direkt im Feuer stehen. Wenn die Meditation meine einzige Achtsamkeitsübung wäre, würde sie mir wahrscheinlich zur Flucht dienen. Als einzige Tür, die aus dem Rausch des Alltags führt. Ich würde zum durchgeknallten Eso mutieren.
Ich möchte den Zustand der Achtsamkeit in jeder Situation erleben, möchte mein Leben so wach und präsent wie nur möglich verbringen. Während geschäftlichen Verhandlungen achtsam zu sein ist doch eine Nummer schwieriger, als wenn ich friedlich vor mich hin meditiere. Doch gerade in solch spannenden Situationen wird der Zustand der Achtsamkeit richtig interessant! Da passiert was! Leben!
Die echte Übungsmatte ist der Alltag
Ich denke, dass Achtsamkeit in den Alltag „eingeübt“ werden muss, bis sich der Schalter umlegt und wir verstanden haben, dass dieser Zustand unser natürlicher Zustand ist. Wir erlernen nichts Neues, sondern finden zu dem zurück, was wir sind. Wir sind allerdings so krank, dass wir eine ganze Weile üben müssen, um unsere eigene Natur zu erkennen.
Ich übe mich also darin, dazubleiben. Als Vorbilder dienen mir die Natur und die Tiere. Jede Pflanze, jedes Tier befindet sich immer in diesem Zustand. Ich schenke ihnen Aufmerksamkeit und versuche von ihnen zu lernen.
Ich übe mich darin, mein Tun zu erleben. Das mag sich jetzt bescheuert anhören, aber wann hast du das letzte Mal wirklich erlebt, was du tust? Hast du beim Kochen gemerkt, wie sich das Gemüse anfühlt und wie es riecht? Hast du während dem Training deinen Körper gespürt oder warst du in deine Gedanken verstrickt? Wann hast du das letzte Mal die Berührung von Wasser auf deiner Haut wahrgenommen?
Ich übe mich darin, mich voll und ganz auf mein Gegenüber einzulassen. Ich höre aufmerksam zu. Ich stoppe eigene Gedanken, die sich in das achtsame Zuhören schleichen und das Gehörte manipulieren oder schon die eigene Story dazu vorbereiten, während der andere noch redet.
Ich genieße, was ich tue. Die Badewanne, eine kleine Zigarillo, gutes Essen… Zugegeben, bei unangenehmen Aufgaben wird das Genießen zur Meisterübung. Aber ich hatte auch schon dunkle Momente, in denen ich dankbar sein konnte. Für das „Lebendigfühlen“. Auch Dunkelheit ist lebendig. Sehr sogar.
Präsenz
Achtsamkeit bedeutet jetzt hier zu sein. Und das kann ich jederzeit üben. Indem ich mich immer wieder in den Moment hole. Wie ein kleiner Klaps auf den Hinterkopf. „Hey Sophia, du driftest schon wieder total ab. Sei präsent! Sei da!“
Präsenz hat ja auch den Vorteil, dass ich stark bin und auf jede Situation ehrlich und wahrhaftig reagiere. Wir reden hier nicht von einem esoterischen Seins-Zustand, sondern von PRÄSENZ. Einer Eigenschaft, die dir alle Türen öffnet, denn dann bist du wirklich in deiner ganzen Kraft. Und man, die ist weitaus höher als du denkst.
Das Leben ist viel schöner und interessanter, wenn ich es achtsam und präsent erlebe. Es fühlt sich lebendig an. Und kostbar.
Achtsamkeit ist ein Zustand
Während Wikipedia schreibt, dass „Achtsamkeit als Form der Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit einem besonderen Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand, als spezielle Persönlichkeitseigenschaft sowie als Methode zur Verminderung von Leiden verstanden werden kann“ und ebenfalls anmerkt, dass dieser Artikel „einer Überarbeitung bedarf“, sage ich es nochmal:
JETZT. HIER. IN DIESEM MOMENT. DA SEIN. Das ist Achtsamkeit. Achtsamkeit ist ein Zustand!
Fotos: Franz Josef Seidl
Editor: Holger Gutt
Hallo Sophia,
ich habe voller Freude dein Essay gelesen. Mir gefällt, dass du so persönlich über dein Erleben schreibst.
Und dass Achtsamkeit für dich kein Mittel zum Zweck ist: dass es nicht darum geht, etwas anderes damit zu erreichen (”Achtsamkeit macht leistungsfähig” oder “schlank”).
Dieses “Etwas erreichen wollen” ist ja genau der Treibstoff, der das Denken am Laufen hält!
Sondern, wie du sagst: “Achtsamkeit ist Jetzt.”
Wir können ja gar nicht anders als jetzt hier zu sein, nur die Aufmerksamkeit kann sich auf die Gedanken an etwas anderes verengen. Dann entgeht uns die Freude des Erlebens, das keine besonderen “Sensationen” braucht, sondern einfach nur die sinnliche Lebendigkeit dieses Moments genießt.
Und so ist auch dein Blog ein Genuss: die schlichten, ehrlichen Worte so stimmig eingebettet in schlichtes Schwarzweiß und schöne Bilder — Achtsamkeit in Aktion!
Du hast in meinem Blog genau das erkannt, was ich transportieren möchte! Vielen Dank, lieber Dittmar Kruse! Auch dafür, dass du dir die Zeit genommen hast, den Essay zu lesen. Ich würde mich gerne auch mal live mit dir unterhalten!
Vielen Dank für diesen Text.
Ich bin auf der Suche nach dem was ich wirklich bin, auf dem Weg zu mir selbst, die Entscheidung dazu hat mich achtsam werden lassen. Aufmerksam für das was ist. Ich Lerne dadurch zu erkennen was eigendlich wirklich passiert was es eigendlich ist. Ich schreibe auch einen Blog zu meinen Erfahrungen und habe mich hier in deinen Worten wiederfinden können. Danke dafür.
Love Everybody.